Hauptteil

Ich habe mich entschlossen meine Arbeit – innerhalb des vorgegebenen Projekt-Rahmens – der genaueren Betrachtung der Zeit im Comic zu widmen. Dazu werde ich zunächst Scott McClouds Erkenntnisse analysieren und beschreiben.

Wie kann in einem zweidimensionalen Medium wie einem Buch oder einer Zeitschrift Zeit dargestellt werden? Mit dieser Frage muss man sich in ganz besonderer Weise beschäftigen, wenn man die Darstellung der Zeit im Comic untersucht.

Um darauf näher einzugehen, stelle ich zunächst die Art dar, mit der der Leser den Comic liest. Da in unser Gesellschaft das Auge darauf trainiert ist, ein Buch Seite für Seite und Zeile für Zeile, von links oben nach rechts unten zu lesen, betrachtet man automatisch in der selben Reihenfolge die Bilder und Texte eines Comics. In Gesellschaften, in denen die typische Leserichtung sich davon unterscheidet, erfolgt dies entsprechend anders.

Die übliche Darstellung einer Comic-Geschichte erfolgt in Form von einzelnen, durch Rahmen umgebenen Panels, die verschiedene Sequenzen voneinander trennen. Dabei berufe ich mich auf die McCloud´sche Comic-Definition.

Nun fällt auf, dass die Leserichtung beim Comic nicht auf die Blicke von Bild zu Bild – also von Panel zu Panel – beschränkt ist. Denn auch innerhalb eines Panels stimmt die Anordnung der Elemente mit der gewöhnlichen Leserichtung überein. Kann dies denn Zufall sein? Nein, natürlich nicht! Soll sich immer eine andere Geschichte ergeben, je nachdem ob man von links nach rechts oder umgekehrt liest? Nein, auch das nicht. Der Autor eines Comics kann ganz bewusst die Gewohnheit des Lesers ausnutzen, um die korrekte Lesereihenfolge seines Comics zu gewährleisten. Natürlich könnte der gleiche Prozess umgedreht werden, sodass der Autor bewusst die Gewohnheit des Lesers ausnutzt, um Verwirrung zu erzeugen, indem die typische Reihenfolge missachtet wird.

Was hat das ganze jetzt aber mit der Zeit im Comic zu tun? Dreidimensionale Illusionen können durch perspektivische Zeichnungen auf zweidimensionalen Medien erzeugt werden. Nun, die vierte Dimension kann nicht durch eine bildhafte Darstellung erfasst werden. Deshalb wird die vierte Dimension im Comic einfach selbst ein Teil der zweidimensionalen Welt. Da der Leser sich während des Lesens fortlaufend in der Zeit der Wirklichkeit bewegt, ist es möglich, dass die einzelnen zweidimensionalen Elemente im Gehirn unterschiedlichen realen Zeitpunkten zugeordnet werden. Um zu klären, welche Auswirkungen das hat, gebrauche ich im Folgenden die aus der Epik bekannten Begriffe „Erzählzeit“ und „Erzählte Zeit“.

Der Begriff Erzählzeit bezeichnet die real beim Lesen oder Erzählen verstreichende Zeit. Die Erzählte Zeit bezeichnet dagegen die Zeiträume von denen berichtet wird. Das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit kann variiert werden. Ist die Erzählte Zeit länger als die Erzählzeit so entsteht ein zeitraffender Effekt, da die Ereignisse zeitlich verkürzt dargestellt werden. Im Comic bedeutet das, dass die zwischen den Panels erzählte Zeit sehr unterschiedlich ausfallen kann. Da aber jedes Panel im Gehirn – wie beschrieben – mit einem Zeitpunkt abgespeichert wird, empfindet der Leser die erzählte Zeit als real verstrichen.

Scott McCloud hat die verschiedenen Kategorien dieser Panel-Übergänge sehr überzeugend differenziert. Die von ihm gewählten Bezeichnungen werde ich aufgrund ihrer Genauigkeit im Weiteren verwenden.

Die bei dem beschriebenen Prozess benötigte Leistung des Gehirns wird auch Induktion genannt. Allgemein bezeichnet man die Fähigkeit als Induktion, mit der man sich ein Objekt vollständig vorstellt, obwohl es nur zum Teil zu erkennen ist. Nachdem man dies als kleines Kind erlernt hat, ist man nun in der Lage die Sequenzen eines Comics zu einem kompletten Film werden zu lassen. Dies findet nicht nur automatisch statt, sondern auch noch unterbewusst, also ohne dass man es merkt. Es funktioniert einfach. Dabei ist die Panel-überbrückende Leistung – die Induktion – umso größer, je länger die überbrückte Zeit ist. Übergänge der vierten bis sechsten McCloud-Kategorie erfordern eine sehr hohe Induktion – die Zeit schreitet schnell voran.

Interessant sind in diesem Zusammenhang aber auch die beiden ersten Kategorien, weil durch diese Bewegungen dargestellt werden können.

Nun dienen diese Bewegungs- und Zeit-Darstellungen schon der ersten Erklärung meiner Zeit-Analyse. Denn schließlich werden durch die symbolischen Szenen und Handlungen Symbole für vierdimensionale Geschehnisse (Bewegung) und für die vierte Dimension (Zeit) erzeugt. Genau durch diese Symbole wird dem Leser die Zeit- und Animations-Illusion verschafft. Ähnlich wie in der Literatur dienen symbolhafte Darstellungen im Comic dazu, die Vorstellung beim Leser zu wecken, dass die irrealen Figuren wirklich existieren würden.

Nun möchte ich mich einem anderen Gebiet zuwenden, das ähnliche Einflüsse auf das Zeitempfinden hat. Neben der Methode, verschiedene Zeitpunkte in den Sequenzen darzustellen, gibt es noch die wesentlich facettenreichere Möglichkeit, Zeit innerhalb eines Panels darzustellen. Dabei ist sehr interessant, dass durch die meisten Panels in allen Comics nicht nur ein Zeitpunkt beschrieben wird, sondern eine Zeitdauer. Wie das im Allgemeinen geschieht, werde ich im Folgenden untersuchen.

Die Grundvoraussetzung für das Gelingen eines dadurch vermittelten Zeitgefühls ist das Funktionieren der menschlichen Wahrnehmung; das Auge braucht Zeit, um eine Szene zu überblicken. Nach McCloud sei man jedoch durch die Fotografie darauf konditioniert, einzelne Bilder als Augenblicke wahrzunehmen. Das zeigt deutlich eine Besonderheit des Comics (bzw. der meisten Comics, da in manchen pro Panel nur ein Augenblick dargestellt wird). Denn im Comic sind Raum und Zeit genau dasselbe – wie der Comic-Wissenschaftler es auszudrücken pflegt.

Genau dieser Aspekt macht die Zeit im Comic zu einem derartig besonderen Erlebnis. Durch die zweidimensional dargestellte Ausdehnung der Zeit werden verschiedene Zeitpunkte an unterschiedlichen Stellen nebeneinander aufgeführt. Aufgrund von diesem theoretisch simplen Unterfangen ergibt sich eine charakteristische Eigenschaft der sequentiellen Kunst: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden gleichzeitig dargestellt.

Deshalb wechselt während des Lesens ständig die aktuelle Gegenwärtigkeit der Panels, die Gegenwärtigen werden Vergangenheit und die Zukünftigen Gegenwart. Genau das geschieht zwar auch innerhalb anderer Zeit-Vorgänge – z.B. beim Film – allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied. Im Comic kann der Leser jederzeit aus dem Augenwinkel heraus die nebenstehenden Panels und somit Vergangenheit und Zukunft überschauen. Es erfordert nur eine kleine Änderung der Blickrichtung, um andere Zeitpunkte zur Gegenwart zu machen. Dadurch kann man jeden Abschnitt noch einmal lesen, was zwar auch bei Literatur möglich ist, jedoch erfordert dies dort mehr als nur einen Augenblick.

Nach der bisherigen Analyse der Zeit möchte ich mich mit den genaueren Inhalten der Zeit-Darstellung auseinandersetzen. Wie schon erwähnt können durch Panel-Übergänge der dritten und vierten Kategorie direkt Zeitspannen symbolisiert werden. Daneben erzeugen kurze zeitliche Abstände und nähere Zusammenhänge der Panels die Illusion einer Bewegung.

Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit Bewegungen zu erzeugen und damit Zeit darzustellen – innerhalb eines Panels.

Scott McCloud hat diesbezüglich die Möglichkeiten des Comics untersucht. Zur Zeit werden in allen Comics Objekte mit Bewegungslinien versehen, wenn ein Objekt sich bewegen soll. Der Comickünstler McCloud hat neben den einzelnen Linien auch ganze stilistische Komplexe der Bewegungs-Darstellung analysiert. Dabei unterscheidet er die mehr oder weniger starken einfachen Linien, die Darstellung von Bewegungsphasen, die fotografischen Schlieren und die eigenständige Komposition der japanischen Comics. Eine gesonderte Erwähnung verdient dabei die Subjektive Bewegung, bei der die Bewegungs-Illusion direkt auf die Person des Lesers übertragen wird.

Ein anderes Instrument, das im Comic gebraucht werden kann, ist das Polypthycon. Hierbei bewegt sich eine Person vor einem feststehenden Hintergrund. Dies kann innerhalb einer Sequenz oder direkt in einem Panel geschehen. Dadurch wird dem Leser noch näher gebracht, welche Zeitspannen vergehen, sodass der Leser direkt in die Zeit mit eintauchen kann.

All diese Bewegung führt nicht nur zu einem real empfundenen Zeit-Verstreichen aufgrund der Vierdimensionalität der Bewegungen, sondern auch dazu, dass alle Vorgänge sich zu einer videoartig komponierten, unterbrechungslosen Geschichte vereinigen. Die Etablierung von Aktion und Reaktion braucht seine Zeit und deren Darstellung wird im Gehirn des Lesers zwangsläufig in Zeit umgesetzt, weil das Gehirn solche Vorgänge nur mit zeitlichem Vorankommen interpretieren kann.

Eine andere und die wohl unauffälligste Art erzählte Zeit verstreichen zu lassen, ist die fast immer im Comic angewandte Darstellung von Schall. Dies erfordert zunächst wieder eine Erklärung, denn Schall ist nicht bildlich. Wie kann Schall im Comic hörbar bzw. sichtbar gemacht werden?

Die meisten Comics enthalten Sprechblasen und Soundwords. Beide symbolisieren akustische Reize, die von einer Figur oder einem Gegenstand stammen oder von einer Handlung ausgelöst werden. Dabei stellen Wörter und Geräusche Schall dar, welche eben nur in der Zeit existieren können. Neben der Akustik symbolisierenden Wirkung besitzen Schall-Symbole also auch wieder eine Zeit-Funktion, die dazu beiträgt, die einzelnen Sequenzen zu einer geschlossenen Komposition verschmelzen zu lassen. Das Gehirn kann sich symbolischen Schall nicht ohne Zeit-Verstreichen vorstellen.

Eine interessante Überlegung ist nun: Was geschieht, wenn alle diese Zeit erzeugenden Elemente fehlen? Was passiert, wenn nichts die Zeit vorantreibt?

Einerseits können innerhalb eines Werks phasenweise Beschreibungen einer Szene auftauchen, die in der Kategorie 5 der McCloud´schen Panel-Übergänge lediglich verschiedene Gesichtspunkte einer Szene zeigen. Dabei stellt man fest, dass nichts die Zeit vorantreibt. Aber das soll auch nicht geschehen, denn Gesichtspunkte finden schließlich gleichzeitig, in einem Augenblick statt.

Andererseits können spezielle Panelformen und -inhalte Zeitlosigkeit suggerieren. Bei dieser Möglichkeit zählt jedoch nur das Zeitempfinden innerhalb eines Bildes, da mehrere einzeln betrachtet zeitlose Panels wiederum ein zeitliches Vorankommen ermöglichen, wenn diese eine Chronologie und keine Gleichzeitigkeit ausdrücken. McCloud hat einige Beispiele gefunden, bei denen das merkwürdige Zeitempfinden durch Äußerlichkeiten beeinflusst wird. So z.B. das randlose Panel. Da der Leser an das gängige Rechteckformat gewöhnt ist, wird durch den optischen Verfremdungs-Effekt eine zeitliche Unabhängigkeit vermittelt. Ebenso fungiert ein Panel, das den Panelrahmen durch das Anschneiden der Seite bricht. Auch hier findet ein Austreten aus der Gewohnheit statt.

Eine andere Möglichkeit ist wohl die häufigste, Zeitlosigkeit zu veranschaulichen. Und zwar tritt bei stummen Sequenzen ohne Bewegungselemente der Zustand ein, dass wirklich nur ein Augenblick oder mehrere Augenblicke gezeigt werden, in denen keine Zeit vergeht. Dabei funktionieren selbst untertitelte, aber stumme Panels wie direkte Augenblicke. Sobald ein zeitlich definierter Aspekt wie ein Geräusch oder die Darstellung einer Bewegung auftaucht, gibt es einen Hinweis auf die Dauer der Panels, sodass die Zeitlosigkeit verloren geht.

Durch die Analyse der Zeit ist immer wieder klar geworden, welche große Rolle diese für den Comic spielt. Scott McCloud behauptet, dass der Comic die Zeit zu einem Schlüsselelement mache. Warum ist dies nur im Comic der Fall? Und warum wird im Comic überhaupt Zeit dargestellt?

Ich habe dargelegt, inwiefern Zeit allgemein Erwähnung im Comic findet. Zum einen können zeitliche Vorgänge symbolisiert werden, indem Schall – in Form von Wörtern oder Lautmalereien – dargestellt wird. Zum anderen kann die Darstellung von Bewegung – zwischen den Panels oder innerhalb eines Panels – dazu dienen, ein zeitliches Vorankommen zu ermöglichen.

Die bildliche Darstellung von akustischen Reizen erfordert eine Fertigkeit des Gehirns. Dabei werden die Symbole in der Phantasie in reale Geräusche umgesetzt. In anderen Medien funktioniert dies sehr ähnlich.

Beim Lesen eines Comics wird jedoch außerdem ständig die Fähigkeit zur Induktion benötigt. Dies ist zwar einerseits auch in anderen Medien der Fall, denn auch im Fernsehen werden unvollständige Szenen gezeigt, die der Zuschauer auf sich selbst gestellt vervollständigen soll. Auch in der Literatur wird ununterbrochen die Phantasie des Lesers beansprucht, um die vollendete Illusion zu erreichen. Andererseits gibt es aber einen entscheidenden Unterschied beim Comic im Gegensatz zu anderen Medien.

Nur im Comic stellt die Induktion die Basis jeder Verwirklichung dar. Nur hier werden alle Vorgänge auf die Vervollständigung im Gehirn des Lesers abgestimmt. Während im Fernsehen Induktion erfordernde Elemente außergewöhnliche Spielereien sind, werden diese beim Comic in jedem Panel und zwischen allen Panels gebraucht. In der Literatur werden alle Vorgänge und deren Zusammenhänge wie im Film komplett beschrieben, sodass der Zuschauer diese nur in seiner Phantasie ausmalen muss.

Im Comic existiere nach McCloud dagegen eine Komposition der Veränderung und eine Komposition der Erinnerung. Durch beide wird die Induktion nicht nur benötigt, sondern absolut vorausgesetzt. Man könnte sagen, dass die Komposition des Comics auf induktiven Prozessen basiert und zum größten Teil daraus besteht.

Deshalb behaupte ich, dass im Comic die Zeit das wichtigste Element darstellt und eine entscheidendere Rolle einnimmt als in allen anderen zwei- bis vierdimensionalen Medien. Durch die Zeit wird der Comic lebendig, sodass sich jeder Leser mehr vorstellt als nur die eigentlich dargestellten Sequenzen. Aus diesem Grund bietet der Comic meiner Meinung nach eine sehr gute Alternative zu den zur Zeit immer stärker verbreiteten Medien des Fernsehens und des Internets. Denn durch die ständige Forderung der Phantasie für die Umsetzung der sequentiellen Kunst wird der medialen Verstumpfung durch das rein passive Fernsehschauen nicht nur entgegengewirkt, sondern auch vorgebeugt.

Darüber hinaus schafft das Medium Comic ständig eine Illusion der Zeit. Diese Illusion wird durch die Phantasie des Lesers aufgebaut. Je nachdem, wie groß die durch Phantasie zu füllenden Lücken sind (wie hoch die Induktions-Anforderung ist), kann ein Comic somit die Phantasie fordern... und durch entsprechendes Training fördern.

Ich hoffe, dass ich auf die leider oft unterschätzten Möglichkeiten des Comics aufmerksam machen konnte und dass ich einen weiteren Schritt zur nötigen Aufklärung dieses Mediums getan habe. Letztendlich hoffe ich, dass ich dazu beitragen konnte, die Zeit wieder etwas weiter zu entschlüsseln, sodass die Menschheit der vollkommenen Entdeckung des unendlichen Wissens wieder ein Unendlichstel näher gekommen ist.